Stell dir vor, du stehst mitten in Lissabon, die Sonne wärmt deine Haut, und dann biegst du in eine kleine Gasse ein, weg vom Trubel. Plötzlich stehst du vor der Igreja de São Roque. Von außen wirkt sie eher schlicht, fast unscheinbar, eine alte Dame, die ihre Geheimnisse gut bewahrt. Aber genau das ist der Zauber. Geh durch die große Holztür. Du spürst sofort, wie die Temperatur fällt, die Luft wird kühler, schwerer, erfüllt vom leisen Echo deiner Schritte auf dem Steinboden und einem Hauch von altem Holz und Weihrauch. Deine Augen brauchen einen Moment, um sich an das gedämpfte Licht zu gewöhnen, aber deine Ohren nehmen sofort die Stille wahr, nur unterbrochen vom fernen Summen der Stadt und dem gelegentlichen, leisen Murmeln anderer Besucher. Das ist der Moment, in dem du weißt: Hier bist du angekommen, hier beginnt eine Zeitreise.
Geh langsam, lass dich nicht drängen. Deine Füße fühlen den kühlen, unebenen Steinboden. Wende dich nach rechts. Hier beginnt der Reigen der Seitenkapellen. Jede von ihnen ist ein kleines Universum für sich, ein Schatzkästchen voller Details. Du wirst das Gefühl haben, dass die Wände selbst atmen, so reich sind sie mit Gold, Marmor und kunstvollen Schnitzereien verziert. Nimm dir einen Moment, um die Texturen zu erspüren – die glatte Kühle des Marmors, das raue Gefühl alter Holzschnitzereien, selbst wenn du sie nur mit den Augen berührst. Manche Kapellen sind dunkler, fast intim, andere leuchten dir entgegen. Lass deinen Blick schweifen, aber halt dich nicht zu lange auf, denn das Beste kommt noch.
Dein Blick wird unweigerlich zum Hauptaltar gezogen. Er ist das Herzstück der Kirche, ein leuchtendes Zentrum aus vergoldetem Holz, das sich bis zur Decke erhebt. Stell dir vor, wie das Licht, das durch die Fenster fällt, auf dem Gold tanzt und es zum Glühen bringt. Es ist überwältigend, fast zu viel für die Sinne, aber auf eine gute Art. Ein Gefühl von Ehrfurcht überkommt dich, so alt, so prächtig. Von hier aus gehst du weiter die linke Seite entlang. Du wirst ähnliche Kapellen entdecken, jede mit ihrer eigenen Geschichte, ihren eigenen Farben und Formen. Manche sind stiller, manche strahlen eine fast majestätische Ruhe aus. Sie sind wie die Ouvertüre zu einem großen Orchesterstück.
Und dann, am Ende der linken Seite, kommt der Höhepunkt, das, wofür du hierhergekommen bist: die Kapelle des Heiligen Johannes des Täufers (Capela de São João Baptista). Hier hältst du inne. Du spürst eine andere Art von Energie in der Luft, eine fast greifbare Opulenz. Stell dir vor, wie das Licht auf den polierten Oberflächen tanzt, auf dem Lapislazuli, dem Amethyst, dem Alabaster. Es ist, als ob die Kapelle selbst atmet, so lebendig wirkt sie. Sie ist nicht nur aus Gold und Edelsteinen gebaut, sondern auch aus dem Wunsch, das Prächtigste zu schaffen, was Menschenhände je erschaffen haben. Nimm dir hier wirklich Zeit. Setz dich auf eine der Bänke, wenn du kannst, schließe die Augen und lass die Stille, die hier herrscht, auf dich wirken. Es ist ein Ort, der dich umarmt und gleichzeitig in seinen Bann zieht.
Nach dieser Explosion der Sinne solltest du unbedingt noch die Sakristei besuchen. Viele übersehen sie, aber das wäre ein Fehler. Sie ist oft zugänglicher, vielleicht nicht so überladen wie die Kapellen, aber mit wunderschönen alten Holzarbeiten und Malereien, die eine ganz eigene, ruhige Schönheit besitzen. Hier spürst du die Geschichte auf eine andere, intimere Weise. Die Maserung des Holzes unter deinen Fingern, die gedämpften Farben der Gemälde – es ist ein Ort der Kontemplation. Und wenn du noch Zeit und Energie hast und tiefer eintauchen möchtest, dann geh ins Museum für Sakrale Kunst, das direkt an die Kirche angeschlossen ist. Es ist klein, aber fein, und die Exponate erzählen die Geschichte der Kirche und ihrer Schätze auf eine Weise, die das Erlebnis abrundet. Rechne für Kirche und Sakristei etwa 45 Minuten bis eine Stunde ein, für das Museum nochmals 30 bis 45 Minuten. Es lohnt sich.
Liebe Grüße aus Lissabon,
Olya von den Gassen