Stell dir vor, du schwebst. Nicht im Traum, sondern real. Und unter dir? Keine Ahnung, wie tief es ist, aber du siehst jeden einzelnen Stein am Grund, als wärst du nur Zentimeter entfernt. Das ist Silfra. Ich bin gerade erst zurück und mein Kopf schwirrt noch von den Eindrücken. Das erste, was dich packt, ist die Kälte. Selbst im Trockenanzug spürst du die eisige Umarmung des Wassers, das direkt aus einem Gletscher kommt. Aber es ist eine Kälte, die wach macht, die dich durch und durch belebt. Dann kommt die Stille. Du hörst nur dein eigenes Atmen, ein leises Rauschen in den Ohren, während du dich langsam in diese Spalte gleiten lässt, die Europa von Nordamerika trennt. Stell dir vor, du bist eine Feder, die langsam in einen riesigen, glasklaren Kristall sinkt. Das Licht bricht sich auf unglaubliche Weise, taucht alles in Blautöne, die du noch nie zuvor gesehen hast – von einem zarten Himmelblau bis zu einem tiefen, fast mystischen Indigo. Du spürst, wie das Wasser dich trägt, dich sanft vorwärtsschiebt, während du zwischen gigantischen Felswänden gleitest, die sich über Jahrtausende geformt haben.
Du bewegst dich kaum, das Wasser erledigt die meiste Arbeit. Du spürst die leichte Strömung, die dich durch die schmalsten Passagen zieht, wo die Felswände so nah sind, dass du sie mit ausgestreckten Händen fast berühren könntest. Dann weitet sich die Spalte wieder, und du schwebst über weite, sandige Böden, die von grünen Algen bewachsen sind – kleine Unterwasserwälder, die im sanften Licht tanzen. Stell dir vor, du bist in einem riesigen Aquarium, aber es ist echt, lebendig, und du bist ein Teil davon. Die absolute Stille unter Wasser ist fast meditativ. Dein Herzschlag, dein Atem – alles wird lauter, präsenter. Du fühlst dich unglaublich klein und gleichzeitig unendlich verbunden mit diesem Ort, der so alt und majestätisch ist. Jeder Atemzug durch den Schnorchel klingt wie ein Echo in dieser kristallklaren Welt. Was mich am meisten überrascht hat, war, wie *leicht* alles war. Ich hatte gedacht, es wäre anstrengend, gegen die Kälte anzukämpfen, aber die Trockenanzüge sind so gut isoliert, dass du dich nach ein paar Minuten einfach nur noch auf die Erfahrung konzentrieren kannst. Die Klarheit des Wassers ist so surreal, dass du denkst, du könntest die Hände ausstrecken und die Felsen am Grund greifen, obwohl sie viele Meter entfernt sind.
Aber ganz ehrlich, es gibt auch ein paar Sachen, die man wissen muss. Der Weg zum Einstiegspunkt kann ganz schön rutschig sein, besonders wenn es frisch geschneit oder geregnet hat. Und der Trockenanzug? Der ist zwar genial, aber auch ein bisschen sperrig. Wenn du nicht daran gewöhnt bist, dich in so einem Ding zu bewegen, kann es sich anfangs etwas unbeholfen anfühlen. Und ganz wichtig: Dein Gesicht ist der Kälte ausgesetzt. Nach einer Weile wird es *wirklich* kalt. Das ist nichts für Weicheier, und du solltest dir bewusst sein, dass deine Lippen blau werden könnten. Mein Tipp: Achte darauf, dass der Anzug wirklich perfekt sitzt. Wenn irgendwo Wasser eindringt, ist der Spaß schnell vorbei. Und nimm dir unbedingt eine Mütze und Handschuhe für danach mit, die du sofort anziehen kannst, sobald du aus dem Wasser bist. Dein Körper braucht die Wärme.
Trotz der Kälte und der anfänglichen Ungeschicklichkeit mit dem Anzug ist es eine dieser Erfahrungen, die du nie vergessen wirst. Es ist einmalig auf der Welt, zwischen zwei Kontinenten zu schweben. Das Gefühl, Teil dieser geologischen Wucht zu sein, ist einfach unbeschreiblich. Um das Beste rauszuholen: Geh am besten vormittags. Da ist das Licht am schönsten und die meisten Touren sind noch nicht so überfüllt. Zieh unter den Trockenanzug warme Thermounterwäsche an, am besten aus Wolle oder Fleece – keine Baumwolle! Und nimm dir eine kleine Flasche mit heißem Tee oder Kakao mit. Das ist Gold wert, wenn du wieder an Land bist und dir der Wind um die Ohren pfeift. Frag auch nach der Gruppengröße. Kleinere Gruppen bedeuten oft ein persönlicheres Erlebnis und mehr Zeit im Wasser.
Was mich am Ende am meisten überrascht hat, war nicht nur die optische Klarheit, sondern die *gefühlte* Präsenz der Erde. Du siehst nicht nur das Wasser, du siehst die Kontinentalplatten, die sich hier bewegen. Du bist wirklich *in* einem Erdbebengebiet, nur dass es hier alles ganz langsam und friedlich passiert. Die Zeit scheint unter Wasser stillzustehen, und du spürst eine tiefe Ehrfurcht vor der Natur. Es ist ein Ort, der dich demütig macht und dir gleichzeitig eine unglaubliche Energie gibt. Es ist mehr als nur Schnorcheln; es ist eine Begegnung mit den Urkräften unseres Planeten.
Bis zum nächsten Abenteuer,
Olya von den Nebenstraßen