Stell dir vor, du stehst plötzlich vor einem massiven Block aus Jahrtausenden alter Geschichte. Du spürst schon von Weitem, wie die Luft kühler wird, während du dich dieser Festung aus Stein näherst, der Abbaye Saint-Victor in Marseille. Der Trubel der Stadt, das Hupen der Roller und das Gemurmel der Menschen, all das scheint hier draußen vor den dicken Mauern zu bleiben, wie ein leiserer Wind, der nur noch an deinen Ohren vorbeistreicht. Du hörst nur noch das leise Knirschen des Kieses unter deinen Füßen, wenn du den Vorplatz überquerst, und vielleicht das ferne Kreischen einer Möwe. Die Luft riecht hier anders, nicht nach Meer, sondern nach altem Stein, nach einer Stille, die Geschichten atmet.
Du trittst durch das schwere Portal ein, und sofort umhüllt dich eine ganz andere Welt. Ein kühler Hauch streicht über dein Gesicht, als ob du in eine andere Zeitlinie gleitest. Der Boden unter deinen Füßen wechselt von rauen Pflastersteinen zu glattem, abgenutztem Stein, der die Schritte unzähliger Besucher vor dir gespürt hat. Jeder Laut, jedes leise Flüstern, hallt hier anders, fängt sich in den hohen Gewölben und trägt sich nach oben, wie ein Gebet. Es ist dunkel, aber nicht beängstigend, eher wie ein sanfter Schatten, der die Details weicher zeichnet. Du spürst die Ruhe, die in den dicken Mauern wohnt, eine Art Frieden, der sich langsam in dir ausbreitet, während du dich langsam durch den Hauptraum bewegst.
Dann geht es tiefer. Du spürst, wie sich der Boden neigt, als du die Stufen hinabsteigst, die dich in die Krypten führen. Mit jedem Schritt wird die Luft feuchter, kühler, und der Geruch von feuchtem Stein, von Erde und etwas Altem, Unbeschreiblichem, wird intensiver. Die Geräusche von oben verstummen fast vollständig, und du hörst nur noch dein eigenes Atmen, vielleicht das leise Tropfen von Wasser irgendwo in der Tiefe. Die Gänge werden enger, die Decke niedriger. Du musst dich vielleicht leicht ducken, um nicht anzustoßen, und deine Hände suchen unwillkürlich Halt an den rauen Wänden, die sich kühl und unnachgiebig anfühlen. Es ist wie eine Reise in den Bauch der Geschichte, wo die Zeit stillzustehen scheint.
Du tastest dich vor, folgst den gewundenen Pfaden durch die unterirdischen Kammern. Hier unten ist es fast stockfinster, nur hier und da fällt ein spärlicher Lichtstrahl durch eine Öffnung oder eine kleine Lampe wirft einen weichen Schein auf die Sarkophage und Grabplatten. Du kannst die Unebenheiten des Bodens unter deinen Füßen spüren, manchmal ist es glatt vom vielen Gehen, manchmal rau und uneben. Wenn du die Hände ausstreckst, berührst du kalten, glatten Marmor oder den groben, porösen Stein der Wände, die seit Jahrhunderten hier stehen. Jeder Schritt hallt leise wider, und die Stille ist so tief, dass du das Gefühl hast, die Geschichten derer zu hören, die hier ruhen. Es ist ein Ort, der Ehrfurcht einflößt und dich tief mit der Vergangenheit verbindet.
Kleiner Tipp, wenn du wirklich in diese Atmosphäre eintauchen möchtest: Komm am besten gleich morgens oder kurz vor Schließung. Dann ist es viel ruhiger, und du hast die Stille der Krypten fast für dich allein. Zieh bequeme Schuhe an, denn der Boden ist uneben, besonders in den unteren Gängen. Und sei dir bewusst, dass es viele Stufen gibt, um zu den Krypten zu gelangen – es ist nicht barrierefrei zugänglich. Plan etwa eine Stunde für den Besuch ein, um alles in Ruhe zu erkunden und die besondere Stimmung auf dich wirken zu lassen.
Lina unterwegs