Du stehst vor den Toren des Yonghegong, dem Lama-Tempel in Peking, und schon bevor du eintreten kannst, spürst du eine Veränderung in der Luft. Der Lärm der Stadt, das unablässige Hupen und Summen, das dich eben noch umgeben hat, beginnt zu verblassen, wie ein Echo, das immer leiser wird. Du machst einen Schritt, dann noch einen, und es ist, als würdest du durch eine unsichtbare Schwelle treten. Plötzlich umfängt dich eine andere Stille – nicht die Abwesenheit von Geräuschen, sondern eine tiefe, klingende Ruhe. Deine Füße spüren den kühlen, glatten Stein unter den Sohlen, und der erste Hauch von Weihrauch erreicht dich, leicht und doch unverkennbar, ein Versprechen von dem, was kommt.
Mit jedem weiteren Schritt tauchst du tiefer ein in diesen Schleier aus Düften und Klängen. Der Weihrauch wird intensiver, eine warme, würzige Wolke, die sich in deinen Atemwegen festsetzt und dort verweilt. Du hörst es zuerst leise, dann immer deutlicher: das tiefe, rhythmische Murmeln der Mönche, ein Gesang, der nicht nur deine Ohren, sondern deinen ganzen Körper durchdringt. Es ist ein tiefer, grollender Ton, der in deiner Brust widerhallt, ein uralter Klang, der sich in jede Zelle einzuschreiben scheint. Stell dir vor, wie das Sonnenlicht durch die kunstvoll geschnitzten Dächer fällt, goldene Strahlen, die im schwebenden Weihrauch tanzen und die Luft zum Leuchten bringen. Du atmest diesen Duft ein, spürst die Vibration der Gesänge in deinen Knochen – es ist, als würde der Tempel selbst zu einem Teil von dir, ein stilles, mächtiges Herz, das in deinem eigenen schlägt.
Dein Weg führt dich weiter, durch Höfe, die von alten Bäumen beschattet werden, zu immer größeren, prunkvolleren Hallen. Die Holzbalken über dir sind dunkel und glatt vom Alter, ihre Oberfläche fühlt sich kühl und fest an, wenn du sie berührst – Zeugen unzähliger Gebete und Jahrhunderte der Hingabe. Und dann stehst du im letzten, größten Gebäude. Dein Blick wandert nach oben, immer weiter nach oben, bis du ihn siehst: den kolossalen Buddha, aus einem einzigen Sandelholzstamm geschnitzt, der bis zur Decke reicht und dich mit seiner schieren Größe demütig macht. Du spürst seine Präsenz, eine unbewegliche, friedvolle Energie, die den gesamten Raum erfüllt. Es ist ein Moment, in dem die Zeit stillzustehen scheint, und du bist nur ein kleiner Punkt in einem gewaltigen Meer aus Stille und Andacht.
Wenn du dieses Gefühl selbst erleben möchtest, ist der Yonghegong super einfach zu erreichen. Nimm einfach die U-Bahn-Linie 2 oder 5 bis zur Station Yonghegong Lama Temple. Von dort sind es nur ein paar Schritte bis zum Eingang. Am besten kommst du gleich morgens, kurz nach der Öffnung. Dann ist es noch nicht so voll, und du kannst die Ruhe und Atmosphäre viel intensiver aufsaugen, bevor die großen Reisegruppen ankommen. Der Eintritt kostet eine kleine Gebühr, aber das ist es absolut wert für dieses Erlebnis.
Noch ein Tipp: Achte auf deine Kleidung. Da es ein religiöser Ort ist, zieh dir etwas Respektvolles an – Schultern und Knie sollten bedeckt sein. Fotografieren ist in den meisten Haupthallen nicht erlaubt, besonders nicht direkt von den Buddha-Statuen, aber in den Höfen und von außen kannst du tolle Aufnahmen machen. Schau dir auch die kleineren Details genau an: die kunstvollen Schnitzereien, die tibetischen Gebetsmühlen, die vielen kleinen Altäre. Manchmal findest du eine ruhige Ecke, wo du einfach sitzen und die Energie des Ortes auf dich wirken lassen kannst.
Pack dir bequeme Schuhe ein, denn du wirst einiges laufen. Eine Wasserflasche ist auch keine schlechte Idee, besonders an wärmeren Tagen. Wenn du nach dem Besuch Hunger hast, gibt es in der Nähe des Tempels, besonders in den Hutongs (alten Gassen) rundherum, viele kleine Restaurants und Imbisse, wo du authentisches chinesisches Essen probieren kannst. Es ist der perfekte Abschluss für einen Vormittag voller Eindrücke – erst die Stille und Spiritualität, dann das lebendige Treiben und die Aromen der Stadt.
Mia von unterwegs