Stell dir vor, du bist im Yosemite Valley, aber es ist noch dunkel. Nicht stockfinster, sondern dieser besondere Schleier, kurz bevor die Sonne die ersten Gipfel küsst. Du stehst da, vielleicht mit einer warmen Tasse in der Hand, und das Tal atmet. Es ist ein Geräusch, das du nicht sofort wahrnimmst, kein lauter Klang, sondern eher eine tiefe, fast unhörbare Resonanz. Ein sanftes Rauschen, das nicht vom Fluss kommt, sondern vom Tal selbst – als würde es tief ein- und ausatmen, bevor der Tag erwacht. Manchmal hörst du dann das ganz leise Knistern der ersten Sonnenstrahlen, die auf die noch kühlen Granitwände treffen, ein fast magisches Flüstern.
Und dann, wenn die ersten goldenen Finger des Lichts über El Capitan streichen, verändert sich die Luft. Du spürst, wie die Kühle der Nacht langsam weicht, ein Hauch von Wärme steigt auf. Aber es ist nicht nur die Temperatur. Es ist dieser ganz eigene Duft, der nur dann existiert: eine Mischung aus feuchter Erde, die noch vom Tau benetzt ist, dem harzigen Aroma der Kiefern, das sich mit der aufsteigenden Wärme vermischt, und einem mineralischen Hauch des Granits, der sich langsam erwärmt. Es ist ein Duft, der dich umhüllt, dich erdet und dir das Gefühl gibt, dass du Teil von etwas Uraltem bist, das gerade zum Leben erwacht.
Ganz ehrlich, wenn du das erleben willst, musst du früh raus. Richtig früh. Setz dir den Wecker auf eine Stunde vor Sonnenaufgang. Pack dir warme Schichten ein, denn die Nächte können kühl sein, und einen Becher für deinen Kaffee oder Tee. Such dir einen ruhigen Platz am Valley Loop Trail, vielleicht in der Nähe des Merced River, wo du einen freien Blick auf die Ostseite hast. Bleib einfach still. Keine Fotos, keine Gespräche, nur fühlen und lauschen. Es ist dein Moment mit dem Tal.
Aber Yosemite hat noch andere geheime Düfte, die nur die Einheimischen oder die wirklich Aufmerksamen kennen. Stell dir vor, du bist im Hochsommer hier, und ein plötzlicher, kurzer Regenschauer geht nieder. Die Luft ist sofort wie gewaschen, klar und frisch. Doch was dann kommt, ist das Besondere: der Geruch von feuchtem Ponderosa-Kiefernholz, das von der Sonne gebacken wurde und nun den Regen aufsaugt. Es ist ein tiefer, würziger, fast süßer Duft, der sich vom Boden löst und durch die Luft zieht. Er ist anders als der Geruch des Morgentaus – er ist intensiver, erdiger, voller Leben und gleichzeitig so flüchtig, dass du ihn fast verpassen könntest.
Diesen speziellen Duft schnappst du am besten im späten Frühling oder Hochsommer auf, wenn die Tage warm sind und es nachmittags kurze Gewitter geben kann. Am besten erlebst du ihn auf einem der Waldwege, die etwas abseits der Hauptstraßen liegen, wie zum Beispiel dem Mirror Lake Trail nach einem kurzen Schauer. Geh langsam, atme tief ein. Es ist kein Duft, den du suchen musst, sondern einer, der dich findet, wenn du offen dafür bist. Denk dran, dass er schnell verfliegt, also sei bereit, ihn in dich aufzunehmen.
Und dann ist da noch ein Klang, der dich umhüllen kann, wenn du wirklich lauschst. Es ist nicht das Rauschen der Wasserfälle, die ja allgegenwärtig sind. Stell dir vor, du stehst an einem windigen Nachmittag in einem Hain von Ponderosa-Kiefern. Der Wind pfeift durch ihre langen Nadeln, aber es ist kein gewöhnliches Pfeifen. Es klingt wie ein ferner, sanfter Gesang, fast wie das Geräusch von Wellen am Meer, die ganz leise an den Strand rollen. Es ist ein Klang, der dich hypnotisieren kann, der dich in eine andere Welt entführt und dir das Gefühl gibt, dass die Bäume selbst Geschichten erzählen. Er ist so subtil, dass er leicht im Hintergrundrauschen verschwindet, wenn du nicht bewusst hinhörst.
Um diesen "Gesang der Kiefern" zu hören, brauchst du ein bisschen Wind und einen ruhigen Ort. Such dir am besten einen abgelegeneren Abschnitt des Valley Loop Trails, oder geh auf den Wegen rund um Curry Village oder Yosemite Village, wo viele Ponderosa-Kiefern stehen. Es ist am besten an einem Nachmittag, wenn der Wind etwas auffrischt. Schließ die Augen, lehn dich an einen Baumstamm und lass den Klang einfach auf dich wirken. Es ist ein Zeichen dafür, wie lebendig dieser Ort wirklich ist, wenn du bereit bist, genauer hinzuhören.
Alles Liebe von unterwegs,
Leni von unterwegs